1 00:00:47,067 --> 00:00:48,632 IV: Guten Tag. 2 00:00:48,633 --> 00:00:49,766 RD: Guten Tag. 3 00:00:49,767 --> 00:00:56,432 IV: Könnten Sie über sich erzählen, wo Sie geboren wurden? 4 00:00:56,433 --> 00:01:10,299 RD: Ich kann viel über mich erzählen und werde mich bemühen, so breit wie möglich, über mein Leben von der Kindheit 5 00:01:10,300 --> 00:01:21,966 über die Besatzung, den Warschauer Aufstand, sowie später über das KZ, die Festnahme und die Rückkehr nach Polen zu berichten. 6 00:01:21,967 --> 00:01:31,966 Ich möchte über mein ganzes Leben erzählen, aber ich möchte Ihnen auch mitteilen, 7 00:01:31,967 --> 00:01:48,832 dass ich in meinen Ausführungen, meinen Erinnerungen und Erlebnissen auch schwierige und problematische Aspekte ansprechen möchte. 8 00:01:48,833 --> 00:02:06,332 Gleichzeitig möchte ich diejenigen Fragmente meines Lebens hervorheben, die ich im Zusammenhang mit dem KZ Flossenbürg erlebt habe. 9 00:02:06,333 --> 00:02:22,166 In diesen schrecklichen Bedingungen, in der Erniedrigung des Menschen, wenn der Mensch als solcher zur Nummer wurde, erlebte ich Momente der menschlichen Herzlichkeit. 10 00:02:22,167 --> 00:02:33,866 An der Stelle möchte ich diese Momente der Herzlichkeit, die es im deutschen Volk gibt, hervorheben. Das behaupte ich. 11 00:02:33,867 --> 00:02:51,899 Vom Anfang an: ich heiße Roman Dębiński und bin am 06. Oktober 1929 in Warschau geboren. 12 00:02:51,900 --> 00:03:01,899 Ich bin Pole, römisch-katholisch. Ich bin römisch-katholischen Glaubens. 13 00:03:01,900 --> 00:03:13,866 Das Leben im Lager hat sich über mehrere Monate hingezogen. 14 00:03:13,867 --> 00:03:24,566 Gerade der römisch-katholische Glaube hat mir die Kraft gegeben. Dem Glauben verdanke ich mein Überleben im Lager. 15 00:03:24,567 --> 00:03:40,899 Wenn es um meine Familie geht: Ich hatte drei Brüder: Janek, der drei Jahre älter war als ich, 16 00:03:40,900 --> 00:03:50,632 und Jurek, drei Jahre jünger als ich. Ich hatte also zwei Brüder, wir waren zu dritt. 17 00:03:50,633 --> 00:04:00,099 Als ich sieben Jahre alt war, traf mich als kleines Kind ein großes Unglück, denn unser Vater starb. 18 00:04:00,100 --> 00:04:15,966 Es war für uns eine große Tragödie, ohne Vater zu leben, auf der anderen Seite war die materielle Situation. Unsere Mutter ging einer Beschäftigung nach, 19 00:04:15,967 --> 00:04:24,732 allerdings konnte sie weder unseren Unterhalt sichern noch die alltäglichen Bedürfnisse der Familie befriedigen. 20 00:04:24,733 --> 00:04:38,966 Aber Gott hat unsere Geschicke gelenkt und wir konnten einigermaßen leben. Die Mutter war 33, als unser Vater starb. 21 00:04:38,967 --> 00:04:50,266 Der Vater war übrigens ebenfalls 33 Jahre alt. Aber unsere Mutter war immer bei uns, ihr ganzes Leben lang. Sie starb im Alter von 83 Jahren. 22 00:04:50,267 --> 00:05:00,299 Es ging uns mal besser mal schlechter, die materielle Situation bis 1939 war nicht leicht. 23 00:05:00,300 --> 00:05:16,199 Hier möchte ich mit dem Überfall auf Polen beginnen. Es war schon das Dritte Reich, nicht wahr? Deutschland hat Polen überfallen. 24 00:05:16,200 --> 00:05:28,599 Ich war damals 10 Jahre alt. Warschau war sehr stark durch die Luftangriffe zerstört. 25 00:05:28,600 --> 00:05:39,366 Die Hauptstadt brannte lange Zeit, einen Monat lang oder noch länger. Danach begann die deutsche Besatzung. 26 00:05:39,367 --> 00:05:56,932 Ich erinnere mich an 1940 und den kalten Winter. Solche Frostperioden habe ich in meinem Leben noch nie erlebt. Gleichzeitig wurden wir besetzt und versklavt. 27 00:05:56,933 --> 00:06:21,499 Abgesehen von der materiellen Seite und dem schwierigen Alltag litt das polnische Volk, Warschau, unter dem deutschen Terror. 28 00:06:21,500 --> 00:06:46,799 Es gab willkürliche Razzien, Exekutionen und andere Vorfälle. Ich wohnte in Warschau-Leszno 3. Es war 1942 und ich war selbst Zeuge. 29 00:06:46,800 --> 00:07:03,032 An der Mauer unseres Wohnhauses erschossen die Deutschen ein Hundert Polen. Das Blut rann auf den Fußweg, vom Fußweg in den Kanal. 30 00:07:03,033 --> 00:07:05,266 IV: Warum wurden sie erschossen? 31 00:07:05,267 --> 00:07:17,899 RD: Sie wurden bestraft für das Vorgehen gegen die Deutschen. Es war die Rache für die Tötung eines Deutschen durch den polnischen Widerstand. 32 00:07:17,900 --> 00:07:27,532 Sie wurden erschossen. Der größter Henker war damals ein General der SS, Kutschera. 33 00:07:27,533 --> 00:07:36,666 Später wurde er bei einem Anschlag in Warschau in der Aleje Ujazdowskie getötet. 34 00:07:36,667 --> 00:07:49,599 Die Besatzungszeit war sehr schwer. Ich habe die Volksschule beendet und ging aufs Gymnasium. 35 00:07:49,600 --> 00:07:58,566 Leider musste ich die Schule aus finanziellen Gründen abbrechen, denn ich musste meiner Mutter helfen durchzukommen. 36 00:07:58,567 --> 00:08:21,366 Es war keine leichte Aufgabe. Diese viereinhalb Jahre Besatzung hinterließen in mir Spuren. 37 00:08:21,367 --> 00:08:37,132 Es wurde immer mehr berichtet, dass die Deutschen an der Ostfront Rückschläge hinnehmen und dass sich die Kriegsfront Warschau nähert. 38 00:08:37,133 --> 00:08:49,432 Ich meldete mich bei den Szare Szeregi an. Es war eine Art polnische Pfadfinder im Rahmen der Armia Krajowa. 39 00:08:49,433 --> 00:09:02,699 Wir wurden auf den Warschauer Aufstand, der am 01. August begann, vorbereitet. Ich absolvierte eine Schulung und nahm am Warschauer Aufstand teil. 40 00:09:02,700 --> 00:09:15,299 Unsere Abteilung wurde aufgelöst und es kam zu einem ungleichen Kampf: Auf der einen Seite Panzer und Flugzeuge, auf der anderen Seite hatten wir nur Benzinflaschen. 41 00:09:15,300 --> 00:09:26,266 Wir hatten höchstens ein Maschinengewehr. Danach löste Oberst Żukowski unsere Gruppierungen auf. 42 00:09:26,267 --> 00:09:30,732 IV: Wer warb für die Szare Szeregi an? 43 00:09:30,733 --> 00:09:38,632 RD: Ich wurde von meinen Schulfreund im Gymnasium angeworben. Er war schon länger bei den Szare Szeregi. 44 00:09:38,633 --> 00:09:51,732 Da wir uns seit der Kindheit kannten, verspürten wir einen patriotischen Willen, aktiv zu werden und für die Befreiung von der Besatzung zu kämpfen. 45 00:09:51,733 --> 00:09:54,666 IV: In welchem Alter waren die Teilnehmer von Szare Szeregi? 46 00:09:54,667 --> 00:10:02,932 RD: Ich war nicht mal 16. Ich war 15 und ging auf 16 zu. 47 00:10:02,933 --> 00:10:13,866 Der Schulfreund, der mich für die Szare Szeregi angeworben hat, war älter als ich. 48 00:10:13,867 --> 00:10:23,132 Der Gruppenleiter war etwa drei oder vier Jahre älter als ich. Damals zählte aber das Alter nicht. 49 00:10:23,133 --> 00:10:33,832 Da herrschte der patriotische Wille, sich von der Okkupation zu befreien. Ich betone, es war nicht einfach. 50 00:10:33,833 --> 00:10:47,599 Der Warschauer Aufstand dezimierte die Bevölkerung der Hauptstadt. Nach heutigen Angaben starben 200.000 Menschen. 51 00:10:47,600 --> 00:11:04,632 In den Reihen der Armia Krajowa starben etwa 18.000 Armeeangehörige, die Übrigen waren Zivile. 52 00:11:04,633 --> 00:11:16,932 Es wurden ganze Stadtteile komplett bombardiert. Hitlers Befehl war, Warschau und seine Bevölkerung total zu zerstören. 53 00:11:16,933 --> 00:11:27,732 Warschau besteht aus mehreren Stadtvierteln. Die größten Zerstörungen waren 54 00:11:27,733 --> 00:11:43,832 in den Stadteilen Wola, im Westen, und in Ochota. Im Stadtteil Wola 55 00:11:43,833 --> 00:11:56,699 zerstörte die SS alles und tötete alle, die ihnen im Wege standen. Im Stadtviertel Ochota war die Wlasow-Armee aktiv, die Ukrainer. 56 00:11:56,700 --> 00:12:12,799 Sie vergewaltigten Frauen und folterten sie bestialisch. Es war ein schrecklicher Anblick. Ich wurde am 23. August festgenommen. 57 00:12:12,800 --> 00:12:19,066 IV: Zurück zu den Szare Szeregi: Hatten Sie da eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen? 58 00:12:19,067 --> 00:12:28,366 Wie war die Reaktion Ihrer Mutter und Ihrer Brüder, als sie erfuhren, dass sie sich Szare Szeregi angeschlossen hatten? 59 00:12:28,367 --> 00:12:35,332 RD: Zu Hause hat niemand etwas gewusst. Das Prinzip war so, dass niemand wissen sollte, was der andere macht. 60 00:12:35,333 --> 00:12:48,832 Der Aufstand begann am Dienstag, den 01. August. Wir wurden bereits am Sonntag, den 30. Juli, mobilisiert. 61 00:12:48,833 --> 00:13:05,632 In diesem Moment sagte ich meiner Mutter: "Mama, ich gehe zum Aufstand." Verwirrung, Tränen. Es hatte aber nichts mit Mut zu tun. Es war ein Befehl dorthin zu gehen. 62 00:13:05,633 --> 00:13:17,232 Meine Brüder waren bei keiner Organisation. Sie sind in diesem Wohnhaus geblieben und ich ging zu den Szare Szeregi. Sie wurden deportiert. 63 00:13:17,233 --> 00:13:28,699 Das Wohnhaus wurde zerstört. Unsere Mutter wurde in eine Fabrik nach Leipzig, und meine Brüder nach Essen deportiert. 64 00:13:28,700 --> 00:13:43,166 Unsere komplette Familie wurde nach Deutschland gebracht. Wir alle sind, Gott sei Dank, zurückgekommen. 65 00:13:43,167 --> 00:13:52,199 Wir sind zwar zurückgekommen, aber wir waren nicht gesund. 66 00:13:52,200 --> 00:13:54,866 IV: Was für eine Aufgabe hatten Sie während des Warschauer Aufstandes? 67 00:13:54,867 --> 00:14:03,732 RD: Meine Hauptaufgabe war die Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen der Führung und den Gruppierungen. 68 00:14:03,733 --> 00:14:17,466 Später wurde mein Aufgabenbereich um die Beschützung der Führung des Kreises Nummer 6 erweitert. 69 00:14:17,467 --> 00:14:28,699 Für mich bedeutete es sozusagen ein Aufstieg, denn wir wurden vor dem Aufstand fast täglich geschult. 70 00:14:28,700 --> 00:14:39,666 In erster Linie machten wir uns mit dem Thema der Straßenkämpfe vertraut, wie man sich während der Straßenkämpfe verhalten sollte. 71 00:14:39,667 --> 00:15:01,032 Ich war ein einfacher Soldat und hatte das Pseudonym Artur. So sah es aus. Der Aufstand dauerte nur einige Tage. 72 00:15:01,033 --> 00:15:09,866 Unser Oberst gab den Befehl zur Auflösung, denn es war sinnlos, weiterzukämpfen. Ich behaupte, es war eine richtige Entscheidung, weil ansonsten noch mehr Menschen getötet worden wären. 73 00:15:09,867 --> 00:15:12,132 IV: Warum wurden Pseudonyme vergeben? 74 00:15:12,133 --> 00:15:26,266 RD: Wir benutzten weder Vornamen noch Nachnamen. Es gab nur Pseudonyme. Ich war zusammen mit diesem Schulfreund, der mich angeworben hat. 75 00:15:26,267 --> 00:15:36,366 Ich war ihm dankbar dafür, wir kannten uns noch von früher, denn wir wohnten in einer Straße. 76 00:15:36,367 --> 00:15:47,066 Alle anderen kannten sich nur durch Pseudonyme. Das Prinzip war, so wenig wie möglich voneinander zu wissen. 77 00:15:47,067 --> 00:15:55,332 Es waren geheime Strukturen der Armia Krajowa. Zum Schluss wurden unsere Szare Szeregi.. 78 00:15:55,333 --> 00:16:04,132 Szare Szeregi wurden in die sogenannten BS, "Sturmbataillone", umbenannt. 79 00:16:04,133 --> 00:16:14,666 Es war bereits ein ernstzunehmender Bataillon, denn dort haben ältere Soldaten gekämpft. Wir als Jugendliche 80 00:16:14,667 --> 00:16:23,566 haben uns bemüht, während des Aufstandes Unterstützung zu leisten. 81 00:16:23,567 --> 00:16:34,766 Wie ich bereits gesagt habe, wurde unser Bataillon aufgelöst. In der Nähe wohnten meine Großmutter und Tante. 82 00:16:34,767 --> 00:16:45,332 Es gab keine Möglichkeit, meine Mutter zu kontaktieren, so dass ich nach der Auflösung unserer Einheit dorthin gegangen bin. 83 00:16:45,333 --> 00:16:56,932 Ich suchte meine Großmutter auf, aber nach zwei Tagen kamen die SS-Männer in die Wohnhäuser und forderten durch die Lautsprecher, 84 00:16:56,933 --> 00:17:05,732 dass alle Männer die Häuser verlassen müssen. Bei Befehlsmißachtung drohte Erschießung. In meiner Familie herrschte deshalb Verwirrung, 85 00:17:05,733 --> 00:17:08,699 denn es war nicht eindeutig, ob ich schon ein Mann oder noch ein Junge, ein Kind, war. 86 00:17:08,700 --> 00:17:18,766 Vor meiner Großmutter und Tante fühlte ich mich zwar nicht als Mann, aber doch erwachsen. 87 00:17:18,767 --> 00:17:30,266 Ich verließ die Wohnung und ging hinunter in den Hof. Wir wurden auf einen Sammelplatz vor die Maschinengewehre gestellt. 88 00:17:30,267 --> 00:17:41,832 Danach wurden wir über die Kierbedz-Brücke und die Bednarska-Straße bis zur Chlodna-Straße geführt. Im Wola-Stadtviertel gibt es eine St. Michaelskirche. 89 00:17:41,833 --> 00:17:51,699 Dort gab es Massenexekutionen, es starben mehrere Hunderte. Auch in der Chłopska-Straße wurden sogar Krankenhausärzte erschossen. Alles wurde zerstört. 90 00:17:51,700 --> 00:17:53,466 IV: Haben Sie die Erschießungen miterlebt? 91 00:17:53,467 --> 00:18:01,599 RD: Nein, wir sind gerade dazugekommen. Ich wartete auf die Erschießung. Wir gingen nach Wola und es war gegen Mittag. 92 00:18:01,600 --> 00:18:08,632 Dann marschierten wir am frühen Nachmittag und warteten in dieser Kirche auf die Exekution. 93 00:18:08,633 --> 00:18:10,599 IV: Wer war noch mit Ihnen? 94 00:18:10,600 --> 00:18:21,932 RD: Es waren dort sehr viele Menschen. Mit mir war ein Major, er hieß Wydło. Er kam auch nach Flossenbürg. 95 00:18:21,933 --> 00:18:31,466 Ich dachte, aufgrund seines Alters und seiner Armeezugehörigkeit, werde ich mich mit ihm besser fühlen. 96 00:18:31,467 --> 00:18:39,332 Sie führten uns in die Kirche und wir warteten sozusagen auf unsere Vernichtung. 97 00:18:39,333 --> 00:18:51,666 Allerdings wurden die deutschen Pläne geändert, so dass man uns nicht erschießen sollte. Sie trieben uns aus der Kirche über die Bem-Straße 98 00:18:51,667 --> 00:19:02,199 zum Westbahnhof. Wir stiegen in die Elektrozüge und fuhren nach Pruszków bei Warschau. 99 00:19:02,200 --> 00:19:14,232 Es war ein Übergangslager für die Warschauer Bevölkerung, die von dort aus an verschiedene Orte deportiert werden sollte. 100 00:19:14,233 --> 00:19:20,266 Manche fuhren nach Deutschland, Mütter mit Kindern blieben irgendwo in Polen. 101 00:19:20,267 --> 00:19:30,032 Wir waren zwei Tage in Pruszków und wurden aus diesen Baracken, aus diesen Werkstätten, herausgeführt. 102 00:19:30,033 --> 00:19:43,299 Es waren Eisenbahnwerkstätten, Viehwaggons wurden gestellt. Ich kann sagen, dass wir jeweils eine große Gurke für die Fahrt bekommen haben. 103 00:19:43,300 --> 00:19:52,299 Es war sehr eng, ich weiß nicht, wie viele mitgekommen sind. Es war sehr eng. Ich kam am 28. 104 00:19:52,300 --> 00:20:05,032 Wir sind etwa fünf Tage mit diesen Viehwaggons gefahren. Ab und zu hielten wir nachts mitten im Feld an. 105 00:20:05,033 --> 00:20:19,199 Dort konnten wir unsere Bedürfnisse erledigen. Ich kann mich nicht so daran erinnern, wo der Zug angekommen ist. Vielleicht war das Floß. 106 00:20:19,200 --> 00:20:34,166 Ich kann mich aber an die Soldaten, an die SS-Männer mit Schäferhunden erinnern. Es gab Geschrei und Schlagstöcke. 107 00:20:34,167 --> 00:20:43,332 Zum ersten Mal habe ich Häftlinge in gestreifter Kleidung erblickt. Es war... 108 00:20:43,333 --> 00:20:48,432 CM: Moment... 109 00:20:48,433 --> 00:20:59,099 RD: Wie ich schon sagte, ich kann mich nicht erinnern, an welchen Ort uns der Zug brachte. 110 00:20:59,100 --> 00:21:11,366 Es war in der Nähe von Flossenbürg, aber nicht bis zum Lager. Bis jetzt weiß ich es nicht, wo der letze Halt war. 111 00:21:11,367 --> 00:21:18,332 Dort gab es eine Rampe, Soldaten, Hunde und Geschrei. 112 00:21:18,333 --> 00:21:27,432 Ich habe ebenfalls Steine und einen Steinbruch gesehen. Es war vermutlich unweit eines Steinbruchs. 113 00:21:27,433 --> 00:21:46,832 Ich versuche heute, es zu rekonstruieren. Wir wurden von der Station auf das Lagergelände geführt und in Reihen zum Ausziehen aufgestellt. 114 00:21:46,833 --> 00:21:56,732 Wir mussten alle Gegenstände zur Aufbewahrung abgeben, so hat es geheißen. Wir bekamen gestreifte Häftlingskleidung. 115 00:21:56,733 --> 00:22:07,532 An diesem ersten Tag, es war Nachmittag, schaffte ich es nicht, mich auszuziehen, weil wir so viele waren. 116 00:22:07,533 --> 00:22:15,066 Hier gleich dort stand ein kleines Gebäude, in das wir alle reingepfercht wurden. 117 00:22:15,067 --> 00:22:27,532 Es war meine erste Nacht, mein erster Albtraum in Flossenbürg. Ich hatte einen unendlichen Durst, ich wollte trinken. Wie verging die Nacht.. 118 00:22:27,533 --> 00:22:38,532 Unser Transport dauerte fünf Tage. Wir haben weder etwas zu Essen noch zu Trinken bekommen. Wir fuhren in dem Zustand, wie wir eingestiegen sind. 119 00:22:38,533 --> 00:22:48,966 Erst am zweiten Tag wurden wir aus dem Gebäude herausgelassen und wir gaben alles zur Aufbewahrung ab. 120 00:22:48,967 --> 00:23:07,432 Wir bekamen gestreifte Kleidung und ich bekam die Nummer 17913. Wir mussten sie... Wir standen mit dieser Kleidung und den Nummern. 121 00:23:07,433 --> 00:23:17,166 Dort in Richtung der heutigen Kapelle standen zwei eingezäunte Baracken. 122 00:23:17,167 --> 00:23:28,032 Damals hieß es, dass wir zwei Wochen in der sogenannten Quarantäne verbrachten. Meine ersten Tage. 123 00:23:28,033 --> 00:23:43,832 Als wir den Transport nach fünf Tagen verließen und die Baracken der Quarantäne betreten haben, war ich am Boden zerstört. 124 00:23:43,833 --> 00:23:52,032 Ich wusste nicht ob Tag oder Nacht ist. Ich war körperlich und psychisch am Ende. 125 00:23:52,033 --> 00:23:53,432 IV: Waren Sie in der Quarantäne? 126 00:23:53,433 --> 00:24:02,032 RD: Ja, ich war in der Quarantäne. Am Schlimmsten war der Schock. Ich weiß nicht, wie ich das überstanden habe. 127 00:24:02,033 --> 00:24:08,066 Gegenüber stand eine Baracke der Muselmänner. Hießen sie Muselmänner? 128 00:24:08,067 --> 00:24:09,632 IV: Was bedeutet Muselmänner? 129 00:24:09,633 --> 00:24:24,999 RD. Was es heißt? Es war ein Anblick eines Menschen, der nur noch Haut und Knochen war. Die Wangen waren eingefallen. Es waren ausgehungerte Skelette. 130 00:24:25,000 --> 00:24:32,732 Später haben wir etwas zum Essen bekommen. In diesem ganzen Schock hatte ich nicht einmal, 131 00:24:32,733 --> 00:24:42,432 hatte ich nicht einmal Lust, etwas zu essen. Ich wusste nicht, was abläuft und wollte nur noch schlafen. Am Anfang habe ich meine Essensrationen diesen Muselmännern abgegeben. 132 00:24:42,433 --> 00:24:51,899 Aber nach ein paar Tagen musste ich anfangen, an mich zu denken. Zurück zum Anblick der Muselmänner: 133 00:24:51,900 --> 00:25:06,099 Es war für mich der erste Zusammenstoß mit der Lagerwirklichkeit. Ich erkannte das Wesen des Konzentrationslagers. 134 00:25:06,100 --> 00:25:15,466 Zwei Wochen vergingen und wir mussten die Häftlingsnummern annähen: hier und am Hosenbein. 135 00:25:15,467 --> 00:25:30,399 Ältere Häftlinge kamen zu uns und wir tauschten uns aus. Es gab keine Namen mehr, weder Vornamen noch Nachnamen. Du bist eine Nummer. 136 00:25:30,400 --> 00:25:42,366 Diese älteren Häftlinge rieten uns, so schnell wie möglich die Häftlingsnummer auf Deutsch auswendig zu lernen, 17913. 137 00:25:42,367 --> 00:25:49,199 Ich konnte kein Deutsch, lediglich ein paar Worte. Aber bis jetzt erinnere ich mich: siebzehnneunhundertdrei, ist es richtig? 138 00:25:49,200 --> 00:25:51,699 IV: Siebzehnneunhundertdreizehn. 139 00:25:51,700 --> 00:26:04,299 RD: Dreizehn, ja. Bis heute erinnere ich mich an die Nummer. Nach zwei Wochen wurde ich in die Baracke 19 für die Jugendlichen verlegt. 140 00:26:04,300 --> 00:26:12,199 Es gab die Seite A und die Seite B. 141 00:26:12,200 --> 00:26:13,732 IV: Was bedeutete die Baracke für Jugendliche? 142 00:26:13,733 --> 00:26:22,799 RD: Die Baracke 19 war damals für die Jugendlichen bestimmt. Dort waren nur Häftlinge unter 19 Jahren. 143 00:26:22,800 --> 00:26:31,966 Deshalb wurde die Baracke so genannt. Wie ich es später beobachtete, wurde das auch eingehalten. 144 00:26:31,967 --> 00:26:39,599 Wenn jemand 19 Jahre alt wurde, wurde er in eine Baracke für Erwachsene verlegt. 145 00:26:39,600 --> 00:26:51,366 Gleich am nächsten Tag wurde ich in den Arbeitsdienst bei Messerschmitt eingeteilt. 146 00:26:51,367 --> 00:27:07,232 Ich erinnere mich, diese Gruppe, dieses Kommando hieß Abteilung 2. Ich war dort eingeteilt. Dort wurden die Flugzeugtragflächen genietet. 147 00:27:07,233 --> 00:27:22,699 Viele von uns arbeiteten da bis zur Evakuierung des Lagers. Allmählich gab es keine Arbeit mehr in der Fabrik. 148 00:27:22,700 --> 00:27:31,832 Einige Zeit, vielleicht ein paar Tage, arbeitete ich im Steinbruch, man brauchte eine Beschäftigung. 149 00:27:31,833 --> 00:27:44,232 Wenn es um die Arbeit an der Maschine geht, war ich sehr erschöpft. Ich war jung und hatte keine Kraft. 150 00:27:44,233 --> 00:27:54,599 Ich hatte einen Arbeitsunfall, ein Bolzen schlug meine Hand durch. Es war ein Dienstag, daran erinnere ich mich. 151 00:27:54,600 --> 00:28:04,699 ich blieb mit der verbundenen Hand bis zum Arbeitsende in der Fabrik. 152 00:28:04,700 --> 00:28:14,132 Nach dem Appell meldete ich mich im Revier und erst nach drei Tagen, am Freitag, wurde die Hand operiert. Sie war ganz geschwollen. 153 00:28:14,133 --> 00:28:24,132 Der deutsche Arzt wollte hier die Hand amputieren, aber der französischer Arzt war dagegen. 154 00:28:24,133 --> 00:28:36,866 Ich bekam eine Narkose und die Wunde wurde gereinigt. Gott sei Dank ist meine Hand erhalten geblieben. 155 00:28:36,867 --> 00:28:50,399 Ich möchte nochmal zur Arbeit in der Fabrik zurückkehren. Heute nennt man diese Maschinen Nietmaschinen. 156 00:28:50,400 --> 00:29:00,232 Es waren mechanische Nietmaschinen. Es gab wieder einen Vorfall, einen lauten Knall. 157 00:29:00,233 --> 00:29:06,666 Ich war es nicht gewohnt, die Halle war lang und es standen viele Maschinen. 158 00:29:06,667 --> 00:29:14,299 Dieser Lärm hat mir den Kopf zersprengt und ich überlegte, wie ich es überhaupt durchstehe. 159 00:29:14,300 --> 00:29:20,066 Mit jedem weiteren Tag ist es immer leichter und leichter geworden, so dass es am Schluß nicht mehr so gestört hat. 160 00:29:20,067 --> 00:29:32,499 In diesem Zusammenhang möchte ich ein bestimmtes Erlebnis hervorheben, einen Akt der menschlichen Herzlichkeit. 161 00:29:32,500 --> 00:29:39,132 Der Vorarbeiter beim Nieten war ein Österreicher, ein gestandener, älterer Mann. 162 00:29:39,133 --> 00:29:49,966 Zum Mittagessen haben wir eine Suppe bekommen. Wenn das Wetter schlecht war, machten wir die Mittagspause innen, 163 00:29:49,967 --> 00:29:58,966 wenn das Wetter gut war, versuchten wir, in die frische Luft nach draußen zu gehen. Auch dieser Vorarbeiter ging mit und dieser Fakt hat mich irgendwie psychisch aufgebaut. 164 00:29:58,967 --> 00:30:11,399 Er sagte immer: "Junge, Hitler kaputt, Hitler kaputt". Er meinte, der Krieg ist schon zu Ende und dass man noch durchhalten muss. 165 00:30:11,400 --> 00:30:20,766 In dieser Lagerwirklichkeit fand sich ein Mensch, der eine edle Gesinnung hatte. 166 00:30:20,767 --> 00:30:29,166 Ich möchte anhand von Beispielen zeigen, dass nicht alles so schrecklich war. Es gab ein zweites Ereignis. 167 00:30:29,167 --> 00:30:39,966 Ab und zu kam ein älterer Herr in Zivil, er war schon grau. Eines Tages rief er mir zu: "Junge, komm her, komm her". 168 00:30:39,967 --> 00:30:47,866 Ich wusste nicht, was er von mir wollte. Er führte mich irgendwohin in einen Hinterraum und gab mir ein paar Scheiben Brot. 169 00:30:47,867 --> 00:31:04,499 "Hör zu, Junge: Ruhe". Ich soll es niemandem erzählen. Einige Male hat er mir Brot gebracht. Es zeugt davon, dass es noch gute Menschen gibt. 170 00:31:04,500 --> 00:31:19,032 Im Gegensatz zu anderen war der Kapo in der Abteilung 2 ein normaler Mann, er war weder böse noch mißhandelte er uns. Er passte nur auf die Arbeit auf. 171 00:31:19,033 --> 00:31:24,566 Wir hatten allerdings einen Blockältesten in der Baracke 19. 172 00:31:24,567 --> 00:31:34,166 Er war ebenfalls schon älter, grau und hasste Polen. Er sagte immer: "Schweinepolen, Schweinepolen". 173 00:31:34,167 --> 00:31:35,932 IV: Welcher Nationalität war er? 174 00:31:35,933 --> 00:31:47,132 RD: Er war ein Deutscher und hatte eine Vorliebe für das russische Volk. Alle seine Helfer, die wir "Zimmerdienst" nannten, 175 00:31:47,133 --> 00:31:58,532 sie waren alle Russen. Mit denen war es nicht so leicht. 176 00:31:58,533 --> 00:32:14,032 In diesem Zusammenhang möchte ich über zwei Vorkommnisse erzählen. Als ich in diese Baracke kam, gab es zwei Toiletten, zwei Toilettenschüsseln. 177 00:32:14,033 --> 00:32:23,199 Eine Toilettenschüssel war für den Blockältesten und die Zimmerdienste, die andere für die übrigen Häftlinge. ich hatte ein Bedürfnis und ich wusste es nicht. 178 00:32:23,200 --> 00:32:35,767 Ich setzte mich auf ihre Toilettenschüssel. Nicht der Blockälteste selbst, aber die Zimmerdienste haben mich massiv geschlagen.