1 00:00:00,133 --> 00:00:21,566 IV: Heute ist der 6. Oktober 2006, und wir freuen uns, bei Frau Eva Štichová in der Pavrovského 12 in Prag 5 zu Besuch zu sein, um zusammen im Rahmen des Interviewprojekts mit ehemaligen tschechischen Häftlingen des Konzentrationslagers Flossenbürg und seiner Außenlager über ihr Leben zu sprechen. 2 00:00:21,567 --> 00:00:37,899 Frau Štichová, vielen Dank, dass Sie uns hier empfangen und begrüßt haben. Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen gleich die erste Frage stellen. Könnten Sie mir etwas von Ihrer Kindheit erzählen, wann Sie geboren wurden, was Ihr Vater machte, Ihre Mutter? 3 00:00:37,900 --> 00:00:46,132 EŠ: Ich wurde in Nový Bohumín geboren, denn unsere Familie stammt aus dem Gebiet des Teschener Schlesiens. 4 00:00:46,133 --> 00:00:52,166 Aber Bohumín habe ich gar nicht so richtig kennen gelernt oder besser gesagt gar nicht. 5 00:00:52,167 --> 00:00:59,866 Denn als ich zwei Jahre alt war, im Jahr 1929, zogen meine Eltern nach Prag. 6 00:00:59,867 --> 00:01:08,332 Und seit dieser Zeit lebe ich in Prag, bin auch in Prag zur Schule gegangen und fühle mich also eher als Pragerin. 7 00:01:08,333 --> 00:01:17,932 Dennoch bin ich jedes Jahr in das Gebiet Těšín gefahren, und das gerne, denn ich hatte in Střítěž bei Český Těšín meine Oma. 8 00:01:17,933 --> 00:01:21,366 Und dort habe ich meine ganzen Ferien verbracht. 9 00:01:21,367 --> 00:01:24,699 IV: Könnten Sie mir sagen, was Ihr Vater machte? 10 00:01:24,700 --> 00:01:31,499 EŠ: Mein Vater war Angestellter in einem Verlag, Bromografia nannte der sich damals. 11 00:01:31,500 --> 00:01:37,999 Wahrscheinlich war es ein privates Unternehmen, ich glaube, ein Familienunternehmen. Und meine Mutter war Hausfrau. 12 00:01:38,000 --> 00:01:40,799 Ich hatte eine sechs Jahre ältere Schwester. 13 00:01:40,800 --> 00:01:50,299 Und wir lebten ein ganz normales geordnetes, „kleinbürgerliches“ Leben. 14 00:01:50,300 --> 00:01:57,132 IV: Das haben Sie jetzt interessant gesagt. Sie haben erwähnt, dass Sie oft zu Ihrer Oma nach Těšín gefahren sind. 15 00:01:57,133 --> 00:02:05,066 Können Sie sich zum Beispiel an Unterschiede erinnern, konnten Sie zu dieser Zeit Unterschiede zwischen Prag und Těšín wahrnehmen? 16 00:02:05,067 --> 00:02:08,932 EŠ: Na, vor allem habe ich äh die sprachlichen Unterschiede wahrgenommen. 17 00:02:08,933 --> 00:02:15,532 Denn dort waren polnische Kinder, tschechische Kinder, und die Aufschriften auf den Läden 18 00:02:15,533 --> 00:02:21,966 und auf .. In den Dörfern und öffentlichen Plätzen waren tschechisch und polnisch. 19 00:02:21,967 --> 00:02:27,732 Allerdings sprach man dort einen Dialekt, man sagte dazu „auf unsere Art“, und das war eine Mischung. 20 00:02:27,733 --> 00:02:37,032 Äh und die Kinder dort haben mich ausgelacht, denn ich sprach Pragerisch. Sie sagten, ich sänge, während sie „kurz“ {ohne die tschechischen Vokallängen} sprachen. 21 00:02:37,033 --> 00:02:44,832 Auf diese Weise habe ich also die Unterschiede wahrgenommen. Nun, und sonst war ich wie jedes Kind dort draußen. 22 00:02:44,833 --> 00:02:54,299 Wir fuhren Rad, ringsherum war Wald, Badeseen, Berge, und ich habe dort mit diesen Kindern äh während der Ferien ganz selbstverständlich gemeinsam gelebt. 23 00:02:54,300 --> 00:03:01,232 IV: Sie sprechen von Ferien. Woran erinnern Sie sich am stärksten aus Ihrer Schulzeit? 24 00:03:01,233 --> 00:03:04,266 EŠ: Als ich in die Schule gegangen bin? 25 00:03:04,267 --> 00:03:04,699 IV: Hm. 26 00:03:04,700 --> 00:03:15,599 EŠ: Äh ich bin in Prag zur Schule gegangen. Wir wohnten in Karlín, auf dem heutigen Líček-Platz, dem damaligen Riegerovo náměstí. 27 00:03:15,600 --> 00:03:24,432 Ähm ich gehörte zu den guten Schülerinnen. Nebenbei habe ich noch Sprachen gelernt. 28 00:03:24,433 --> 00:03:29,232 Mein Vater bestand darauf, und so lernte ich Deutsch und Französisch. 29 00:03:29,233 --> 00:03:33,899 Ich ging in den Sokol-Turnverein, ganz normal wie alle anderen Kinder. 30 00:03:33,900 --> 00:03:38,999 IV: Hatten Sie beispielsweise irgendwelche Lieblingsfächer? 31 00:03:39,000 --> 00:03:50,399 EŠ: Na, Geschichte moch.., na, Geschichte wohl nicht so, Geschichte und Erdkunde und Sprachen mochte ich immer, Tschechisch hatte ich gern. 32 00:03:50,400 --> 00:03:59,599 IV: Und Sie stammen aus einer jüdischen Familie. Offenbarte sich das im Leben Ihrer Familie irgendwie praktisch? 33 00:03:59,600 --> 00:04:07,732 EŠ: Ich kann mich noch an ein paar Feiertage erinnern. Äh vor allem meine Mama hielt die Feiertage ein. 34 00:04:07,733 --> 00:04:15,066 Aber äh auch an.., andere Feiertage habe ich wahrgenommen, denn das habe ich aus der Schule mitgebracht. 35 00:04:15,067 --> 00:04:21,932 Alle anderen Kinder feierten das, zum Beispiel Weihnachten wurde auch gefeiert, Geschenke, nicht wahr. 36 00:04:21,933 --> 00:04:30,266 So in etwa war das, nicht, überhaupt nicht besonders kontrastreich oder intensiv oder mit Passion, das bestimmt nicht. 37 00:04:30,267 --> 00:04:47,099 IV: Was verbinden Sie mit dem Beginn der 30er Jahre und mit der sich verschlimmernden Situation, etwa in Bezug auf jüdische Flüchtlinge und die daraufffolgende Entstehung des Protektorats? 38 00:04:47,100 --> 00:04:50,299 Haben Sie beispielsweise zu Hause darüber gesprochen, über solche Dinge, oder haben Ihre Eltern Sie eher davon {abgeschottet}? 39 00:04:50,300 --> 00:04:57,299 EŠ: Für mich steht das vor allem mit München in Verbindung {mit dem Münchener Abkommen 1938} und damit, dass das Gebiet Těšín an Polen fiel. 40 00:04:57,300 --> 00:05:09,999 Wir konnten die Oma nicht mehr besuchen und somit wurde ich im Grunde genommen aus meiner zweiten Heimat oder beinahe aus einem Naturparadies herausgerissen. 41 00:05:10,000 --> 00:05:21,432 Wir sorgten uns damals natürlich sehr um meine Oma und dachten darüber nach, sie zu uns zu holen, zusammen mit ihrem jüngsten Sohn. 42 00:05:21,433 --> 00:05:27,799 Aber das haben wir irgendwie nicht geschafft, das heißt, meine Eltern haben es nicht geschafft. Ich war ja noch klein. 43 00:05:27,800 --> 00:05:32,332 Aber ich habe das eben mitbekommen, weil zu Hause darüber gesprochen wurde. 44 00:05:32,333 --> 00:05:36,866 Und sie sind also dort geblieben, als dann der Krieg ausbrach. 45 00:05:36,867 --> 00:05:42,999 Und die Sorge um sie, die war bei uns in der Familie äh ständig zu spüren. 46 00:05:43,000 --> 00:05:50,232 Ansonsten habe ich das selbstverständlich allgemein auch in der Schule und persönlich gespürt. 47 00:05:50,233 --> 00:05:53,166 Na, ich war im Jahr neununddreißig 12 Jahre alt. 48 00:05:53,167 --> 00:05:59,532 Aber es zeigte sich zumindest darin, dass ich mich weigerte, weiter Deutsch zu lernen. 49 00:05:59,533 --> 00:06:04,866 Und mein Vater war einverstanden und sagte: „Ja, aber dann lernst du Englisch.“ 50 00:06:04,867 --> 00:06:09,966 Und ich begann, Englisch zu lernen, was mir dann im Leben recht nützlich war. 51 00:06:09,967 --> 00:06:15,599 Und wenn ich jünger wäre {lacht}, dann würde es mir noch heute etwas nützen. 52 00:06:15,600 --> 00:06:25,232 IV: Haben Sie darüber nachgedacht, die ehemalige Tschechoslowakei zu verlassen, als die Situation im Protektorat schlimmer wurde? 53 00:06:25,233 --> 00:06:34,499 EŠ: Äh die ganze Familie sicher nicht, aber mein Vater kam einmal mit dem Vorschlag, dass ich weggehen könnte. 54 00:06:34,500 --> 00:06:41,732 Ich weiß nicht, ob nach England oder Palästina, einfach irgendwohin, mit irgendeinem Kindertransport. 55 00:06:41,733 --> 00:06:45,532 Aber ich habe das sofort ganz entschieden abgelehnt. 56 00:06:45,533 --> 00:06:47,099 IV: Sie wollten nicht weg von Ihrer Familie? 57 00:06:47,100 --> 00:06:50,066 EŠ: Ich wollte nicht. 58 00:06:50,067 --> 00:06:56,132 IV: Sie haben erwähnt, dass Sie Angst um Ihre Verwandten im Gebiet Těšín hatten. 59 00:06:56,133 --> 00:07:01,732 Aber wenn ich mich nicht irre, dann hat sich ihre Situation dort gerade zu Kriegsbeginn sehr zugespitzt. 60 00:07:01,733 --> 00:07:06,232 EŠ: Sie hat sich extrem zugespitzt, niemand von ihnen lebt mehr. 61 00:07:06,233 --> 00:07:08,332 IV: Und wie ist das geschehen? 62 00:07:08,333 --> 00:07:09,832 EŠ: Das weiß ich nicht. 63 00:07:09,833 --> 00:07:11,366 IV: Und Ihr Onkel? 64 00:07:11,367 --> 00:07:19,699 EŠ: Ja mein Onkel, ja, der Onkel wurde gleich am ersten September {am 1. 9. 1939} nach dem Einmarsch der Deutschen verhaftet. 65 00:07:19,700 --> 00:07:28,999 Äh er war im Gefängnis, zuerst in Těšín, dann in Opava. Und dann .. 66 00:07:29,000 --> 00:07:36,799 versuchte mein Vater herauszubekommen, wo er ist, und man sagte ihm, in Sachsenhausen im Konzentrationslager. 67 00:07:36,800 --> 00:07:43,099 Und wenn er eine Kaution bezahlt, würde man ihn freilassen. Mein Vater bezahlte die Kaution. 68 00:07:43,100 --> 00:07:52,332 Und dann erfuhr er, dass er gar nicht in Sachsenhausen war und dass er mit seinen 33 Jahren in Buchenwald gestorben ist. 69 00:07:52,333 --> 00:08:06,599 IV: Das war bestimmt sehr schwer für Sie. Äh Sie haben sich aber, außer dass Sie mit dem Deutschunterricht aufgehört haben, auch noch dem Widerstandskampf angeschlossen. 70 00:08:06,600 --> 00:08:18,666 EŠ: Ja, ich habe damals hier in einer Fabrik gearbeitet, der "Kondenzia“. Ich weiß nicht mehr genau, wie das ablief. 71 00:08:18,667 --> 00:08:29,599 Man äh sagte mir einfach, ich wäre geeignet zum Austragen und Transportieren von irgendwelchen Flugblättern und Drucksachen. 72 00:08:29,600 --> 00:08:39,166 Ich sei klein, unauffällig, und ob ich nicht bereit dazu wäre. Da habe ich natürlich ja gesagt. 73 00:08:39,167 --> 00:08:46,566 Und ich lernte sogar Judo, damit ich mich wehren kann, wenn mich jemand schnappt. {lacht} 74 00:08:46,567 --> 00:08:49,966 IV: Nun, das ist ja eine wirklich praktische Sache. 75 00:08:49,967 --> 00:08:59,932 EŠ: {lacht} Ja, wirklich praktisch. Ich bin also zum Judo gegangen, daran kann ich mich bis heute erinnern. Ich kann nichts mehr, aber wenn ich die Griffe sehe, dann erinnere ich mich wieder. 76 00:08:59,933 --> 00:09:03,966 IV: Haben Sie Ihre Entscheidung mit Ihren Eltern abgesprochen? 77 00:09:03,967 --> 00:09:08,699 EŠ: Ach woher, die durften davon nichts wissen, niemand wusste etwas davon. 78 00:09:08,700 --> 00:09:14,166 Ich hatte nur eine Freundin, wir haben das zusammen gemacht, sind zusammen gegangen. 79 00:09:14,167 --> 00:09:23,299 IV: Sie haben zwar im Widerstand gearbeitet, aber das schützte Sie natürlich nicht vor den Maßnahmen gegen die Juden, 80 00:09:23,300 --> 00:09:29,766 die langsam auch im Protektorat äh umgesetzt wurden. Wie haben Sie diese Dinge erlebt? 81 00:09:29,767 --> 00:09:43,366 EŠ: Nun, vor allem musste ich die Schule verlassen. Die Schule war für mich fast vorbei, nur – ich weiß nicht, wer das organisiert hat, ich denke, die jüdische Gemeinde. 82 00:09:43,367 --> 00:09:54,666 Die hat so Zirkel in Wohnungen organisiert, wo Kinder des gleichen Alters zusammenkommen und weiter lernen durften. 83 00:09:54,667 --> 00:10:02,099 Ich wurde also in einem solchen Zirkel aufgenommen, immer wochenweise. 84 00:10:02,100 --> 00:10:08,332 Wir waren sechs oder sieben und waren immer abwechselnd eine Woche in den Wohnungen. 85 00:10:08,333 --> 00:10:14,266 Jede Woche wurde immer in einer Wohnung das Esszimmer geräumt, und dort hatten wir Unterricht. 86 00:10:14,267 --> 00:10:23,966 Und dann kamen Fachleute dahin oder Leute, die die Gemeinde geschickt hat, das weiß ich nicht genau. 87 00:10:23,967 --> 00:10:35,532 Aber was ich weiß, dass es gute Lehrer waren, denn was ich später brauchte oder konnte, das habe ich in diesen Zirkeln gelernt. 88 00:10:35,533 --> 00:10:40,666 Und später dann auch bei dem ganz ähnlichen Unterricht in Theresienstadt. 89 00:10:40,667 --> 00:10:49,566 IV: Und dadurch, dass Sie nicht mehr in die Schule gehen durften, haben Sie da Freunde verloren oder auch ein paar neue dazu gewonnen? 90 00:10:49,567 --> 00:11:00,999 EŠ: Na, {Tassenklappern} unter den Kindern in diesem Zirkel, denn mit den Kindern aus der Schule kam ich nur selten in Kontakt. 91 00:11:01,000 --> 00:11:09,532 Denn ich hätte sie ja quasi in Gefahr gebracht, und so hatte ich eher Freunde unter den Kindern in diesem Zirkel. 92 00:11:09,533 --> 00:11:20,232 IV: Nun, und dann folgte eigentlich äh sehr bald Ihre Vorladung in den Messepalast {d. h. auf den Sammelplatz im Prager Messepalast}. Wie lief das ab? 93 00:11:20,233 --> 00:11:30,699 EŠ: Ich wurde schon am 6. September 1942 in den Messepalast und zum Transport beordert. 94 00:11:30,700 --> 00:11:37,566 Und im Unterschied zu all meinen anderen Freunden wurde ich allein hinbestellt. 95 00:11:37,567 --> 00:11:45,799 Äh meine Eltern sollten zu Hause bleiben, auch meine Schwester, nur mich hat man vorgeladen. 96 00:11:45,800 --> 00:11:59,466 Mein Vater ging auf ein Amt, ich weiß nicht, wie das Amt hieß, das der Eichmann leitete oder ich weiß nicht, wie das hieß. Einfach auf das Amt, das die Transporte organisierte. 97 00:11:59,467 --> 00:12:08,732 Und als ich weg musste, da fragte er, ob wenigstens die Familie mitgehen könnte. 98 00:12:08,733 --> 00:12:16,399 So wie bei den anderen, damit die Familie zusammen ist, aber die haben ihn rausgeworfen und gesagt, 99 00:12:16,400 --> 00:12:20,232 nur ich müsse kommen, und so bin ich allein hingegangen. 100 00:12:20,233 --> 00:12:25,432 IV: Und wie lange hat es gedauert, bis Sie dann nach Theresienstadt gekommen sind? 101 00:12:25,433 --> 00:12:29,766 EŠ: Wir waren ungefähr drei Tage im Messepalast. 102 00:12:29,767 --> 00:12:35,299 Wir schliefen auf dem Boden und warteten auf den Transport. 103 00:12:35,300 --> 00:12:38,432 Ich glaube, es waren zwei Tage oder drei, genau kann ich mich nicht erinnern. 104 00:12:38,433 --> 00:12:41,866 IV: Hatten Sie in dem Transport irgendwelche Bekannte oder Freunde? 105 00:12:41,867 --> 00:12:44,732 EŠ: Nein, nein, ich war da allein. 106 00:12:44,733 --> 00:12:47,366 IV: Das war sicher recht schwer. 107 00:12:47,367 --> 00:12:55,732 EŠ: Nun, ich musste mich realistisch damit auseinandersetzen. Ich habe mir gesagt: „Es ging irgendwie und es wird auch irgendwie weitergehen.“ 108 00:12:55,733 --> 00:12:59,899 IV: Und wie waren Ihre ersten Eindrücke von Theresienstadt? 109 00:12:59,900 --> 00:13:11,199 EŠ: Darauf kann ich heute nur sehr schwer antworten {lacht}, denn das war dort alles chaotisch. 110 00:13:11,200 --> 00:13:14,332 Zum ersten Mal war ich ohne meine Eltern, zum ersten Mal woanders. 111 00:13:14,333 --> 00:13:19,032 Ich weiß, dass die Reise von Theresienstadt nach Bohušovice schrecklich war. 112 00:13:19,033 --> 00:13:29,466 Denn ich schleppte 50 Kilo, ich weiß nicht, was meine Mutter mir da alles eingepackt hatte. Es war einfach fürchterlich schwer, es war heiß. 113 00:13:29,467 --> 00:13:35,766 Nun, und dabei waren es doch nur drei Kilometer, SS-Leute auf beiden Seiten. 114 00:13:35,767 --> 00:13:39,466 Also dieser Weg war ziemlich anstrengend für mich. 115 00:13:39,467 --> 00:13:49,266 Aber in Theresienstadt hat man sich dann zum Glück bald nach diesem ganzen Aufnahmechaos um mich gekümmert. 116 00:13:49,267 --> 00:13:54,632 Und ich kam ins Mädchenheim L 410. 117 00:13:54,633 --> 00:14:07,566 Na, und dort fiel dann der Schrecken doch ein wenig von mir ab, denn ich sah dort Mädchen, die ungefähr das gleiche Schicksal hatten und etwa genauso alt waren wie ich. 118 00:14:07,567 --> 00:14:16,132 Und da sagte ich zu mir: „Es geht irgendwie und es wird auch irgendwie weitergehen, vielleicht wird ja alles gar nicht so schlimm.“ 119 00:14:16,133 --> 00:14:21,699 Und ich wurde auch gleich zur Arbeit eingeteilt, weil ich schon 15 war. 120 00:14:21,700 --> 00:14:32,632 Und zwar zu einer recht angenehmen Arbeit in der Gärtnerei hinter dem Ghetto. Damals hieß das „Kreta“, ich weiß nicht, wie das heute ist. 121 00:14:32,633 --> 00:14:40,366 Dort war eine große Gärtnerei, natürlich für die SS-Leute, aber zumindest war ich an der frischen Luft. 122 00:14:40,367 --> 00:14:47,966 Und dort arbeitete ich also bis Juni des Jahres '44. 123 00:14:47,967 --> 00:14:53,499 IV: Und Sie waren ja eigentlich ohne Familie da, hat sich jemand um Sie gekümmert? 124 00:14:53,500 --> 00:15:06,132 EŠ: {Räuspern} Jedes Haus für die Jugendlichen war nach Zimmern untergliedert, in Zimmer, und in jedem Zimmer war eine Betreuungsperson. 125 00:15:06,133 --> 00:15:17,599 Das war eine ältere Frau, die meisten waren ursprünglich Lehrerinnen, Professorinnen, Sozialarbeiterinnen oder so etwas ähnliches. 126 00:15:17,600 --> 00:15:22,732 Und die kümmerten sich in jedem Zimmer um ihre Zöglinge. 127 00:15:22,733 --> 00:15:30,299 Na, und in meinem Zimmer hatte ich eine ganz tolle Frau, Irenka Krausová. 128 00:15:30,300 --> 00:15:40,732 Sie kümmerte sich um uns alle, und äh um mich, denke ich, besonders, denn sie war so etwas wie mein Vormund. 129 00:15:40,733 --> 00:15:54,332 IV: Sie haben gesagt, dass Sie allein nach Theresienstadt mussten, aber schließlich haben Sie den Rest Ihrer Familie ebendort in Theresienstadt getroffen. 130 00:15:54,333 --> 00:16:04,866 EŠ: {Husten} Als meine Eltern 1944 {wahrscheinlich: 1943} kamen, 131 00:16:04,867 --> 00:16:14,699 war ich gerade krank, ich war auf der Infektionsabteilung und konnte sie nicht sofort treffen. 132 00:16:14,700 --> 00:16:21,232 Aber zum Glück wurde ich schnell gesund und dann haben wir uns getroffen. 133 00:16:21,233 --> 00:16:29,332 Aber nicht für lange, denn im September 1944 {wahrscheinlich: 1943} kamen sie mit dem Transport nach Auschwitz. 134 00:16:29,333 --> 00:16:33,099 Und das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. 135 00:16:33,100 --> 00:16:44,332 IV: Sie haben erwähnt, dass Sie in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Hat Ihnen das etwas genützt, abgesehen davon, dass Sie eben an der frischen Luft waren? 136 00:16:44,333 --> 00:16:52,932 EŠ: Nun, dass es einem viel genützt hätte, kann man nicht sagen, dass wir uns satt gegessen hätten {lacht}, das bestimmt nicht. 137 00:16:52,933 --> 00:16:58,832 Aber ab und zu hat man es doch geschafft zum Beispiel eine Gurke oder Tomate zu essen. 138 00:16:58,833 --> 00:17:11,532 Das war nämlich so ein Betrieb, wo nur Kopfsalat, Kohlrabi, Gurken, Einlegegurken und Tomaten gezüchtet wurden, nichts anderes. 139 00:17:11,533 --> 00:17:16,232 Das war so eine Großproduktion für die SS-Leute. 140 00:17:16,233 --> 00:17:24,432 Das heißt eine Tomate und eine Gurke, für Kohlrabi war keine Zeit, für Salat auch nicht, und der war auch zu groß. 141 00:17:24,433 --> 00:17:39,199 Trotzdem konnte ich ab und zu eine Gurke – keine Tomate, die war zu weich – aber eine Gurke in den Stiefel stecken. 142 00:17:39,200 --> 00:17:48,499 Oder irgendwo andershin am Körper und sie nach Hause mitnehmen, naja, „nach Hause“ – ins Ghetto halt. 143 00:17:48,500 --> 00:17:54,332 Äh das war manchmal recht gefährlich, denn es war außerhalb der Ghettoschranken. 144 00:17:54,333 --> 00:18:04,966 Und an diesen Schranken standen Frauen. Ich weiß nicht, ob die zur Gendarmerie {d. h. des Protektorats} oder zur SS gehörten, ich weiß nicht, was das für Frauen waren. 145 00:18:04,967 --> 00:18:09,732 Wir nannten sie „berušky“ {tschech. Wortspiel von „brát“ = wegnehmen, auch: „Marienkäfer“}, denn sie nahmen uns alles weg, was sie bei uns fanden. 146 00:18:09,733 --> 00:18:18,966 Sie durchsuchten uns sehr gründlich am ganzen Körper, aber nur stichprobenartig, also hatte man entweder Glück oder Pech. 147 00:18:18,967 --> 00:18:28,232 Ich habe es immer geschafft. Aber ich habe das, was ich mitbrachte, nicht gegessen, ich habe es immer abgegeben. 148 00:18:28,233 --> 00:18:37,132 Das war so eine organisierte, solidarische Hilfe, und wer eine solche Möglichkeit hatte, der gab etwas ab. 149 00:18:37,133 --> 00:18:51,132 So habe ich es also auch gemacht, bis zu dem Zeitpunkt, bis ich im Juni 1944 erwischt wurde. 150 00:18:51,133 --> 00:18:57,932 Ich glaube nicht, dass ich zu ungeschickt war, ich denke, der SS-Mann hat mit dem Fernrohr Ausschau gehalten. 151 00:18:57,933 --> 00:19:03,732 Er hat mich einfach erwischt, wie ich mir eine Gurke in den Stiefel steckte. 152 00:19:03,733 --> 00:19:12,732 Na, und dann kam er gleich her, zog die Gurke heraus, schlug mich, und am selben Tag musste ich aus „Kreta“ verschwinden. 153 00:19:12,733 --> 00:19:15,266 IV: Und wohin sind Sie verschwunden? 154 00:19:15,267 --> 00:19:26,299 EŠ: In diesem Kinderheim oder Mädchenheim gab es, wie ich schon gesagt habe, tolle Betreuerinnen, die sich um uns kümmerten. 155 00:19:26,300 --> 00:19:30,099 Und auch in diesem Fall haben sie sich um mich gekümmert. 156 00:19:30,100 --> 00:19:35,299 Da ich schon etwas älter war, ich war schon 17, 157 00:19:35,300 --> 00:19:48,632 machten sie mich zur Helferin bei der Arbeit mit den Kindern, und schickten mich als Hilfskraft zur Malerin Friedl Brandeis-Dicker {1898-1944, Bauhaus-Absolventin, berühmt für ihre Malklassen in Terezín}. 158 00:19:48,633 --> 00:19:56,499 Sie unterrichtete die Kinder dort im Zeichnen oder beschäftigte sie mit Malen und Zeichnen. 159 00:19:56,500 --> 00:20:03,599 Denn das war erlaubt, die jüngeren Kinder, die sich ja tagsüber irgendwie beschäftigen mussten, die nicht arbeiteten. 160 00:20:03,600 --> 00:20:10,266 Bei ihr war ich also Hilfskraft. Sie stammte ursprünglich aus Wien, konnte also nur wenig Tschechisch. 161 00:20:10,267 --> 00:20:26,232 Ich war also ihre Ver.., Vermittlerin und half ihr beim Signieren der Arbeiten und bei der Einteilung und beim Materialausteilen und so weiter. 162 00:20:26,233 --> 00:20:34,432 Na, und das war für mich auch eine sehr schöne Arbeit, und mir hat es sehr viel gebracht, einfach nur an ihrer Seite zu sein. 163 00:20:34,433 --> 00:20:36,832 Und auch die Arbeit mit den Kindern. 164 00:20:36,833 --> 00:20:46,599 IV: Das Theresienstädter Ghetto wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt auch von einer Kommission des Internationalen Roten Kreuzes besucht. Erinnern Sie sich an diese Situation? 165 00:20:46,600 --> 00:20:50,999 EŠ: Ja, das war genau zu der Zeit, als ich schon bei Friedl arbeitete. 166 00:20:51,000 --> 00:21:00,099 Na, und ich erinnere mich, wie auf einmal alles geputzt und vorbereitet wurde, man baute einfach Potemkinsche Dörfer. 167 00:21:00,100 --> 00:21:08,199 Und auf dem Hauptplatz wurde sogar eine Art Pavillon gebaut, errichtet, mit einer Kapelle, die dort aufspielte. 168 00:21:08,200 --> 00:21:25,166 Und d.., dann, dann erinnere ich mich auch, dass unter unserem Fenster eines Nachts ein Transport mit offensichtlich geistig Behinderten vorbeifuhr, die man vorher, vor diesem Besuch, einfach verräumte. 169 00:21:25,167 --> 00:21:35,066 Das war fürchterlich, wie sie schrien, und dann durften sie {die Mitglieder der Kommission} sowieso nur die vorbereitete Trasse entlanggehen. 170 00:21:35,067 --> 00:21:38,932 Dieser Besuch wich also weder nach links noch nach rechts vom Weg ab. 171 00:21:38,933 --> 00:21:45,966 Und wenn sie mit jemandem sprachen, dann war das wieder alles nur auf der Trasse, also vorbereitet. 172 00:21:45,967 --> 00:21:56,799 IV: Sie haben auch von den Transporten gesprochen. Was wusste man in Theresienstadt darüber, wohin man transportiert wurde, haben Sie das als Gefahr wahrgenommen? 173 00:21:56,800 --> 00:22:07,599 EŠ: Nun, dass es schlimmer wird und dass es etwas Furchtbares sein wird, das musste jeder ahnen, denke ich. 174 00:22:07,600 --> 00:22:15,366 Ich selbst habe damals eine Karte von meinen Eltern bekommen, und zwar eine Karte .. 175 00:22:15,367 --> 00:22:28,266 Das ist recht bekannt, dass sie von eben diesem Transport im September, mit dem meine Eltern weggeschafft wurden, Karten an ihre Verwandten schreiben mussten, 176 00:22:28,267 --> 00:22:30,999 die vordatiert {vermutlich: vorausdatiert} waren. 177 00:22:31,000 --> 00:22:46,332 So eine Karte habe ich auch bekommen. Und ich hatte mit meinem Vater abgemacht, dass er, wenn es nicht so schlimm kommt und es dort auszuhalten ist, die lateinische Schrift verwendet. 178 00:22:46,333 --> 00:22:57,432 Es musste natürlich auf Deutsch sein, auf nicht zugeklebten Bögen. Und wenn es schlimm ist, dann sollte er Fraktur schreiben, das konnte ich noch aus der Zeit, als ich Deutsch lernte. 179 00:22:57,433 --> 00:23:03,032 Und diese Karte war in Fraktur geschrieben, und so wusste ich, dass es böse aussieht. 180 00:23:03,033 --> 00:23:15,332 Aber konkret, dass man in Gaskammern kam, das glaube ich, konnte man sich als normaler Mensch damals überhaupt noch nicht vorstellen. 181 00:23:15,333 --> 00:23:21,566 Dafür reichte, so denke ich, meine Phantasie nicht aus. 182 00:23:21,567 --> 00:23:32,399 IV: Ich glaube, da waren Sie nicht die Einzige, und das ist ganz verständlich, doch außer Ihren Eltern war ja auch Ihre Schwester in Theresienstadt. Wo hat sie gearbeitet? 183 00:23:32,400 --> 00:23:53,099 EŠ: Meine Schwester arbeitete als Schwester im Krankenhaus und {seufzt} und wir wurden beide, beide im Mai '44 184 00:23:53,100 --> 00:24:03,899 zum Transport eingeteilt, aber als wir aus der Quarantäne zum Waggon liefen .. {weint} 185 00:24:03,900 --> 00:24:05,799 Ich kann nicht. 186 00:24:05,800 --> 00:24:10,766 IV: Machen wir eine Pause. 187 00:24:10,767 --> 00:24:16,566 EŠ: Nehmen Sie sich Tee. Sehen Sie, wie ich es gesagt habe, das ist der Moment, den ich wohl nicht überstehe. 188 00:24:16,567 --> 00:24:25,299 Aber es ist interessant, nicht wahr? Nur dass ich nicht ruhig davon erzählen kann. 189 00:24:25,300 --> 00:24:25,532 IV: Vielleicht könnten Sie .. 190 00:24:25,533 --> 00:24:31,699 EŠ: Nun, ich werde es Ihnen jetzt .. Jetzt bin ich irgendwie vorbereitet. 191 00:24:31,700 --> 00:24:44,099 Bereits als wir aus der Quarantäne zu dem Waggon liefen, das passierte natürlich nachts im Licht der Scheinwerfer, so wie alles in diesen Konzentrationslagern gemacht wurde, 192 00:24:44,100 --> 00:24:54,266 und auf dem Hof vor der Ein.., Einfahrt, dem Eingang zu den Waggons stand Rahm, das war der SS-Befehlshaber von Theresienstadt. 193 00:24:54,267 --> 00:25:02,432 Der hat mich angehalten, und fragte, wie alt ich bin und wo ich arbeite, und hat mich einfach aussortiert. 194 00:25:02,433 --> 00:25:09,799 Er sagte, ich solle zurückgehen, also bin ich dort geblieben und meine Schwester ging weiter. 195 00:25:09,800 --> 00:25:18,166 IV: Das muss schwer gewesen sein, aber es zeigt, dass über das Schicksal eines Menschen einfach auch der Zufall entschied. 196 00:25:18,167 --> 00:25:29,999 EŠ: Aber mir ging es schrecklich. Dass ich dort geblieben bin, die Eltern waren schon fort, und nun musste sie wieder alleine weiter, statt dass wir wenigstens zusammenblieben. 197 00:25:30,000 --> 00:25:34,099 IV: Wie verliefen dann Ihre weiteren Tage in Theresienstadt? 198 00:25:34,100 --> 00:25:50,666 EŠ: Äh ich habe ganz normal gearbeitet, nicht wahr, ich musste mich wie übrigens die meisten meiner Leidensgenossen mit diesem Schicksal abfinden. 199 00:25:50,667 --> 00:26:04,032 Man funktionierte einfach in einem gewissen Automatismus weiter, bis zum September 1944, als ich selbst zum Transport eingeteilt wurde. 200 00:26:04,033 --> 00:26:16,766 Aber vielleicht sollte ich hier äh noch erwähnen, dass es in Theresienstadt genauso wie in den anderen Konzentrationslagern auch eine geheime Untergrundorganisation gab, 201 00:26:16,767 --> 00:26:25,199 der auch ich angehörte, dazu gehörte auch, dieses Gemüse abzugeben, schon vorher. 202 00:26:25,200 --> 00:26:31,899 Aber jetzt arbeitete ich da irgendwie noch intensiver mit. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. 203 00:26:31,900 --> 00:26:43,366 Und wahrscheinlich konnte man da auch Radio empfangen, denn es wurden Nachrichten abgeschrieben, was auf der Welt passiert. 204 00:26:43,367 --> 00:26:54,066 Und solche Nachrichten habe ich – in Blockschrift, damit nicht zu erkennen war, wer das geschrieben hat – vervielfältigt und dann habe ich sie ausgetragen. 205 00:26:54,067 --> 00:27:04,266 Ich kann mich noch bis heute daran erinnern, dass ich als Patientin in eine Zahnarztpraxis gegangen bin zu .. 206 00:27:04,267 --> 00:27:11,099 Ich erinnere mich nicht mehr an den Familiennamen, eine hieß Raisa und die andere hieß Eva. 207 00:27:11,100 --> 00:27:21,999 Beide Zahnärztinnen und beide in die illegale Organisation involviert, und so konnte ich ihnen dort diese schriftlichen Übersichten übergeben. 208 00:27:22,000 --> 00:27:36,099 Und das war wichtig, die Übergabe dieser Nachrichten, denn solche Informationen munterten einen irgendwie auf und hielten einen aufrecht. 209 00:27:36,100 --> 00:27:46,599 Äh und Verbindungsmann, das wird Sie vielleicht interessieren, war der später berühmte Historiker František Graus {1921-1989, Mediävist, nach 1968 Emigration}. 210 00:27:46,600 --> 00:27:59,799 IV: Nun, es ist klar, dass in Theresienstadt die Blüte, wenn ich so sagen darf, der tschechischen jüdischen Intelligenz zusammenkam, erinnern Sie sich zum Beispiel an irgendwelche kulturellen Veranstaltungen, die dort stattfanden? 211 00:27:59,800 --> 00:28:09,032 EŠ: Sicher, und die kulturellen Veranstaltungen waren eigentlich auch so ein Ausdruck, ich will nicht sagen, des Widerstandskampfes, aber des Widerstands. 212 00:28:09,033 --> 00:28:31,499 Denn ein Mensch, der zu Kulturveranstaltungen geht und sich mit Kultur befasst, ist nicht nur eine Nummer, nicht. Er ist ein Mensch und behält sein Selbstbewusstsein und ein gerades Rückgrat und bis zu einem Punkt vielleicht auch seinen Optimismus. 213 00:28:31,500 --> 00:28:38,966 Also, die kulturellen Veranstaltungen waren etwas Wunderbares. Ich bin immer hingegangen, fast jeden Tag. 214 00:28:38,967 --> 00:28:48,732 Äh nach .. nach Einbruch der Dämmerung musste man zu Hause sein, nicht wahr, aber nach der Arbeit, man arbeitete bis sechs und bis acht war noch Zeit. 215 00:28:48,733 --> 00:29:04,866 Und das Interessante an der Kul.., an dieser Kultur in Theresienstadt war, dass an einem so unfreien Ort die äh Kultur eigentlich viel freier war als im damaligen Protektorat. 216 00:29:04,867 --> 00:29:13,799 Denn man spielte dort die Gebrüder Čapek, „Aus dem Leben der Insekten“ zum Beispiel, das war im Protektorat natürlich verboten. 217 00:29:13,800 --> 00:29:23,499 Ich habe dort Gogols „Heirat“ gesehen, Gogol wurde im Protektorat sicher nicht gespielt, nun, und solche Paradoxa eben. 218 00:29:23,500 --> 00:29:33,032 Nun, aber das größte Erlebnis für uns war vermutlich die "Verkaufte Braut", die dort in konzertanter Form einstudiert wurde. 219 00:29:33,033 --> 00:29:39,732 Die habe ich dann mehrmals gesehen und habe das immer für mich gesungen. 220 00:29:39,733 --> 00:29:52,832 Ansonsten gab es dort auch interessante Vorträge aus anderen Bereichen, aus der Philosophie, äh aus der Kunstgeschichte. 221 00:29:52,833 --> 00:30:05,566 Wie Sie sagen, die Spitze der Intelligenz war dort, das stimmt wirklich, denn es waren Phi.., Philosophen dort, Kunsthistoriker, Historiker und was weiß ich wer noch alles. 222 00:30:05,567 --> 00:30:16,332 Und jeder, der zu der Zeit konnte, als es erlaubt war, das muss ich noch erwähnen – Musikwissenschaft, Konzerte, nicht wahr, Karel Ančerl {Karel Ančerl, 1908-1973, Dirigent}, Berman {Karel Berman, 1919-1995, Opernsänger}. 223 00:30:16,333 --> 00:30:23,232 So hat jeder versucht, das, was er im Kopf hatte, den anderen einfach weiterzugeben. 224 00:30:23,233 --> 00:30:30,132 Und ich habe dort einfach auch viel mitbekommen. 225 00:30:30,133 --> 00:30:37,732 Äh außerdem wurde in diesen Jugendheimen heimlicher Unterricht organisiert. 226 00:30:37,733 --> 00:30:41,499 Wie ich schon gesagt habe, die Kinder durften beschäftigt werden. 227 00:30:41,500 --> 00:30:50,666 Und wir hatten einmal äh in 14 Tagen einen freien Sonntag, und da wurde natürlich aufgeräumt, gewaschen und so. 228 00:30:50,667 --> 00:31:06,732 Aber es wurden auch äh Singstunden und Unterricht organisiert, auch an den Abenden, als wir dann nicht mehr raus durften und zu Hause bleiben mussten, da haben wir dann also gelernt. 229 00:31:06,733 --> 00:31:16,432 Äh, ich weiß nicht, ob Mathematiker, Physiker dort waren, zumindest ich habe dort keine Mathematik, Physik und Chemie gelernt. 230 00:31:16,433 --> 00:31:28,732 Was mir später fehlte, das musste ich dann mühsam aufholen {lacht} und dann später in der Schule waren das die schwierigsten Fächer für mich. 231 00:31:28,733 --> 00:31:39,432 Aber ansonsten auch Sprachen, Tschechisch, tschechische Literatur, Kunstgeschichte, äh das wurde dort unterrichtet. 232 00:31:39,433 --> 00:31:54,366 Und das gab mir auch eine Grundlage für das spätere Leben nach dem Krieg, nicht wahr, dass ich überhaupt in der Lage war, an die unterbrochene Ausbildung anzuknüpfen. 233 00:31:54,367 --> 00:31:58,099 IV: Doch Sie haben erwähnt, dass das {d. h. die Organisation von Kulturveranstaltungen} nur für eine gewisse Zeit erlaubt war. 234 00:31:58,100 --> 00:32:06,466 EŠ: Ja, ja. Das war besonders in der Zeit er.., erlaubt, als der Besuch des Roten Kreuzes erwartet wurde. 235 00:32:06,467 --> 00:32:15,532 Aber ich denke auch, dass das von den Deutschen toleriert wurde, weil, na weil das von einem gewissen Zynismus geleitet war: 236 00:32:15,533 --> 00:32:22,966 „Macht hier, was ihr wollt, euer Ende steht sowieso fest.“ 237 00:32:22,967 --> 00:32:33,866 Aber die wussten nicht, dass unterrichtet wird, die dachten nur, dass gesungen und gespielt und Theater gespielt wird und so, nicht wahr, Dinge, die sie nicht weiter störten. 238 00:32:33,867 --> 00:32:40,666 IV: Aber leider endete diese Zeit in Theresienstadt für Sie auch zu einem bestimmten Zeitpunkt. 239 00:32:40,667 --> 00:32:47,466 Wie ging überhaupt diese Vorladung zum Transport vor sich, in die Lager im Osten? 240 00:32:47,467 --> 00:32:51,432 Bekam man vorher Bescheid oder waren die Listen irgendwo ausgehängt? 241 00:32:51,433 --> 00:32:58,066 EŠ: Nun, ich kann nur über meine Erfahrungen berichten, weil ich nicht weiß, ob das überall so war. 242 00:32:58,067 --> 00:33:12,599 Ich habe so einen kleinen Zettel bekommen, darauf stand, ich sollte um so und so viel Uhr in die – damals nannte man das Hamburger Kasernen – kommen. 243 00:33:12,600 --> 00:33:21,099 Das war so eine, eine Quarantänestelle, und das war es dann schon. 244 00:33:21,100 --> 00:33:32,666 Na, und mein größtes Problem war, dass ich gerade dieses abgeschriebene Material bei mir hatte, und jetzt wusste ich nicht, was ich damit machen sollte. 245 00:33:32,667 --> 00:33:47,299 So habe ich noch bis zu dem Moment gewartet, an dem ich antreten sollte, und habe mir gesagt, wenn es niemand abholt, spüle ich es in der Toilette runter oder esse es auf oder so, ich mache einfach was damit. 246 00:33:47,300 --> 00:33:54,366 Ich würde es einfach nicht aus der Hand geben und niemand darf es aus meiner, aus meinen Händen bekommen. 247 00:33:54,367 --> 00:34:10,099 Aber die Organisation hat offensichtlich funktioniert und die Konspiration auch, denn noch bevor ich weg musste, kam eine Frau oder ein Mädchen zu mir, das ich bis dahin nicht kannte. 248 00:34:10,100 --> 00:34:15,966 Aber sie kannte mich offenbar, und sie sagte zu mir: „Du hast das und das bei dir, gib es mir.“ 249 00:34:15,967 --> 00:00:00,000 Und so habe ich es ihr gegeben, mir fiel ein Stein vom Herzen, und ich ging in die Hamburger Kasernen. {lacht}