1 00:00:02,533 --> 00:00:12,332 IV: Sie haben erwähnt, dass Sie die Ferien, wenn man es so nennen kann, damit verbrachten sich auf die Aufnahmeprüfungen für das Lehrerinstitut vorzubereiten. 2 00:00:12,333 --> 00:00:15,666 Warum haben Sie ausgerechnet diesen Beruf gewählt? 3 00:00:15,667 --> 00:00:26,099 EŠ: Das hatte mehrere Gründe. Einmal habe ich mich an die Arbeit mit den Kindern und Friedel Brandeis in Theresienstadt erinnert. 4 00:00:26,100 --> 00:00:39,299 Äh dann war das Lehrerinstitut ein Institut, das es mir nach einem kürzeren Studium ermöglichen würde, mich zu ernähren. 5 00:00:39,300 --> 00:00:42,299 Und dazu noch einen Beruf zu haben, der mir gefällt. 6 00:00:42,300 --> 00:00:51,066 Na, und nicht zuletzt war ein Grund, möglicherweise auch der in gewisser Weise tiefste, meine Erfahrung in Auschwitz, 7 00:00:51,067 --> 00:01:00,699 als ich um mich herum das Grauen mit diesen Kindern gesehen hatte, die im gleichen Zug wie ich gekommen waren. 8 00:01:00,700 --> 00:01:09,832 Und möglicherweise musste ich dieses Grauen überwinden und einfach mit normalen, fröhlichen Kindern arbeiten. 9 00:01:09,833 --> 00:01:16,832 IV: Na, dann denke ich mal, das hat geklappt, wenn Sie es so lange in diesem Beruf ausgehalten haben. 10 00:01:16,833 --> 00:01:22,499 Aber nicht nur Sie sind meines Wissens nach Hause oder nach Böhmen zurückgekehrt. 11 00:01:22,500 --> 00:01:27,732 Zumindest für kurze Zeit traf das auch auf Ihre Schwester zu. Wie ist das verlaufen? 12 00:01:27,733 --> 00:01:34,399 EŠ: Meine Schwester wurde in Bergen-Belsen befreit, von den Engländern. 13 00:01:34,400 --> 00:01:40,799 Weil sie Sprachen konnte, haben sie sie irgendwie ausgesucht. 14 00:01:40,800 --> 00:01:52,132 Zuerst als Dolmetscherin und dann sogar als, ich weiß nicht, als Verbindungsoffizierin oder so etwas ähnliches. 15 00:01:52,133 --> 00:01:57,132 Sie hatte dort eine recht gute und herausragende Stellung. 16 00:01:57,133 --> 00:02:04,499 Und auf irgendeine Weise fand sie damals recht schnell heraus, dass ich lebte und in Prag war. 17 00:02:04,500 --> 00:02:09,466 Also kam sie wieder zu meiner Cousine nach Prag. 18 00:02:09,467 --> 00:02:16,632 Das war so unser Ort, nicht wahr, der Rettung. Na, und dort trafen wir uns wieder. 19 00:02:16,633 --> 00:02:31,266 Und sie war aber bereits nicht nur amtlich, sondern auch persönlich verpflichtet, um es mal so zu sagen {lacht}, bei der Militärverwaltung in Hannover. 20 00:02:31,267 --> 00:02:35,432 Und sie wollte, dass ich mit ihr nach Hannover gehe 21 00:02:35,433 --> 00:02:42,266 und dass wir dann zusammen nach Amerika gehen, denn sie würde einen Amerikaner heiraten. 22 00:02:42,267 --> 00:02:47,299 Na, und das habe ich dann abgelehnt, und so reiste sie dann nach einiger Zeit, 23 00:02:47,300 --> 00:02:56,399 ich weiß nicht genau wie lange, aber nach kurzer Zeit, ich weiß nicht, ob nach einer Woche oder so, da reiste sie dann zurück nach Deutschland. 24 00:02:56,400 --> 00:03:01,732 Und dann weiter nach Amerika, und ich bin hiergeblieben. 25 00:03:01,733 --> 00:03:05,666 IV: Sie konnten sich gar nicht vorstellen wegzugehen? 26 00:03:05,667 --> 00:03:09,799 EŠ: Nein, ich konnte mir das nicht vorstellen, ich wollte einfach nicht weg. 27 00:03:09,800 --> 00:03:14,766 Ich wollte nicht weggehen, ich wollte auch keine Last sein. 28 00:03:14,767 --> 00:03:21,599 So eine Last, wenn jemand einen Ausländer heiratet, mit ihm ins Ausland geht und die jüngere Schwester mitnimmt.. 29 00:03:21,600 --> 00:03:25,666 Na, also in diese Rolle wollte ich nicht geraten. 30 00:03:25,667 --> 00:03:37,166 Aber ich konnte einfach auch nicht weg. Ich hatte mich so lange auf Prag gefreut, ich habe auch deswegen durchgehalten. 31 00:03:37,167 --> 00:03:43,199 Und nun auf einmal weggehen, das, das kam für mich überhaupt nicht in Frage. 32 00:03:43,200 --> 00:03:48,299 IV: Aber Sie haben dann ja auch langsam begonnen, sich Ihr Leben einzurichten. 33 00:03:48,300 --> 00:03:56,832 EŠ: Der Arzt, der mich in Mauthausen gesehen hatte, also am ersten Tag nach der Ankunft 34 00:03:56,833 --> 00:04:05,399 und der mir die Operation bei Professor Podlaha verschafft hatte, das war ein Arzt, ein tschechischer Häftling, 35 00:04:05,400 --> 00:04:19,332 der schon seit äh, dem Jahr 1942 dort war. Das war eigentlich die schlimmste Zeit nach dem Attentat auf Heydrich, und seit der Zeit war er inhaftiert. 36 00:04:19,333 --> 00:04:30,832 Na, in der Pečkárna {d. h. Petschek-Palais, Sitz der Gestapo in Prag} und dann in Pankrác und dann in verschiedenen Konzentrationslagern bis hin zu Mauthausen, wo wir uns trafen. 37 00:04:30,833 --> 00:04:36,499 Und dann trafen wir uns einige Zeit später in Prag wieder. 38 00:04:36,500 --> 00:04:50,066 Na, und noch etwas später fuhren wir zusammen zum Wassersport auf der Lužnice in den Urlaub, und dann irgendwann habe ich ihn geheiratet. 39 00:04:50,067 --> 00:04:54,566 IV: Und ich nehme an, dann kamen auch Kinder. 40 00:04:54,567 --> 00:05:07,332 EŠ: Ja, ich habe Kinder. Gleich im Jahre 1946 bekam ich meinen Sohn, der jetzt 60 geworden ist, und zwei Jahre später meine Tochter. 41 00:05:07,333 --> 00:05:19,666 Na, aber ich habe nebenbei das Lehrerinstitut abgeschlossen, das währenddessen zum pädagogischen Institut geworden war, es gab ständig irgendwelche Neustrukturierungen, nicht wahr. 42 00:05:19,667 --> 00:05:25,632 Na, dann war ich einige Zeit bei den Kindern und dann gab ich die Kinder in den Kindergarten 43 00:05:25,633 --> 00:05:30,699 und begann zu arbeiten, und ab der Zeit habe ich dann immer unterrichtet. 44 00:05:30,700 --> 00:05:37,166 IV: Wie ich sehe, hatten Sie gleich von Beginn an die wertvolle und angenehme Sorge um die Kinder. 45 00:05:37,167 --> 00:05:44,966 Hatten Sie zum Beispiel Probleme, sich in die Nachkriegsrealität hineinzufinden und wieder in das bürgerliche Leben hineinzukommen? 46 00:05:44,967 --> 00:05:51,999 EŠ: Ich denke, am Anfang hatte ich ein paar Mal irgendwelche Träume, dass mich jemand verfolgt und schnappt und so. 47 00:05:52,000 --> 00:05:58,732 Aber dann mit den Kindern und den alltäglichen Sorgen und der schönen Familie, 48 00:05:58,733 --> 00:06:06,832 die mir auch die Familie meines Mannes bot, dass sie mich aufnahmen, also nie. {stark ergriffen} 49 00:06:06,833 --> 00:06:08,999 IV: Das höre ich gern. 50 00:06:09,000 --> 00:06:18,332 Und ich wollte eigentlich noch fragen.. Sie haben eine interessante Episode direkt aus der Zeit nach dem Krieg erwähnt. 51 00:06:18,333 --> 00:06:22,999 Sie hing mit der deutschen Bevölkerung zusammen. 52 00:06:23,000 --> 00:06:25,666 EŠ: In, in Bor, meinen Sie, ja? 53 00:06:25,667 --> 00:06:26,732 IV: Hm. 54 00:06:26,733 --> 00:06:43,066 EŠ: In den ersten Ferien, als mein Sohn zur Welt kam, da ist mein Mann {hustet} allein mit Freunden zum Wassersport und mir besorgte er eine Unterkunft. 55 00:06:43,067 --> 00:06:56,132 Eine Sommerwohnung, so nannte man das, mit Kind, denn ich konnte ja nicht aufs Wasser, mein Sohn war {lacht} ein paar Monate alt, in Nový Bor hier im Grenzgebiet. 56 00:06:56,133 --> 00:07:11,032 Und ich habe jetzt vor kurzem, als ich umgezogen bin, Briefe gefunden, die ich ihm damals in die Ferien geschrieben habe, von meinen Eindrücken aus dem Grenzgebiet. 57 00:07:11,033 --> 00:07:24,266 Und in den Briefen schreibe ich mit so einem gewissen unangenehmen Gefühl, dass die Deutschen dort mit weißen Armbinden gekennzeichnet sind, 58 00:07:24,267 --> 00:07:30,099 dass sie niedrige Zuteilungen bekommen und dass man seltsam mit ihnen umgeht. 59 00:07:30,100 --> 00:07:42,999 Schon damals muss mir das unangenehm gewesen sein, dass man mit ihnen, dass unsere Leute ein bisschen so mit ihnen umgehen, 60 00:07:43,000 --> 00:07:50,066 dass es mich an die Deutschen damals erinnerte, und dass mir das unangenehm war. 61 00:07:50,067 --> 00:07:55,832 IV: Hat Ihre Lebenserfahrung irgendwie die Beziehung zu den Deutschen beeinflusst? 62 00:07:55,833 --> 00:08:10,399 EŠ: Ich sehe das heute so, dass wir einfach die neue Generation nicht mit einer Erbsünde belasten dürfen, 63 00:08:10,400 --> 00:08:17,832 damit das nicht zu einem Neonazismus oder Revanchismus führt. Allerdings müssen sie wissen {nachdrücklich}, was passiert ist. 64 00:08:17,833 --> 00:08:25,432 Ich sage ihnen immer, dass man verzeihen kann, auch wenn ich nicht von verzeihen spreche. 65 00:08:25,433 --> 00:08:28,899 Ich habe einfach kein Recht, etwas zu verzeihen, ich lebe. 66 00:08:28,900 --> 00:08:35,932 Und die Toten, was weiß denn ich, ob sie verzeihen würden oder nicht? Und so spreche ich nicht von Verzeihen. 67 00:08:35,933 --> 00:08:38,099 Aber dass man nicht vergessen kann 68 00:08:38,100 --> 00:08:50,032 und dass man nicht vergessen kann, einfach weil sich so etwas nie und an niemandem wiederholen darf, und das sollte die junge Generation wissen. 69 00:08:50,033 --> 00:08:58,532 Aber ich versuche immer zu zeigen, dass ich kein rachsüchtiges Monster bin, wie es ihnen manchmal erzählt wird. 70 00:08:58,533 --> 00:09:07,266 Dass ich einfach in der Lage bin, mit ihnen zu reden, dass ich nicht jeden als Täter betrachte. 71 00:09:07,267 --> 00:09:16,999 Sondern dass man die Täter finden und bestrafen muss, damit allen die Lust vergeht, solche Taten zu wiederholen. 72 00:09:17,000 --> 00:09:21,766 IV: Ich weiß, dass für Sie diese Arbeit mit der Jugend und mit Kindern sehr wichtig ist. 73 00:09:21,767 --> 00:09:31,332 Und dass Sie versucht haben, das mit Ihren eigenen Erlebnissen zu verbinden, dass Sie also Mitverfasserin eines recht interessanten Buches sind 74 00:09:31,333 --> 00:09:39,999 und zwar des Lesebuchs „Ein Weg – Ziel unbekannt“, das tschechischen Kindern und Jugendlichen gerade diese Zeit nahe bringen soll. 75 00:09:40,000 --> 00:09:43,999 Was hat Sie dazu gebracht, dieses Buch zu schreiben? 76 00:09:44,000 --> 00:09:56,399 EŠ: Schon im Hinblick auf meinen Beruf habe ich mir gesagt, dass man mit der Vermittlung der Vergangenheit bei den Kindern beginnen muss. 77 00:09:56,400 --> 00:10:07,632 Und zwar nicht so, wie wir das gelernt haben, Daten, Jahreszahlen, höchstens noch irgendwelche Herrscher, 78 00:10:07,633 --> 00:10:15,166 sondern indem man ihnen das Schicksal einfacher Menschen näher bringt und anhand dessen die Geschichte zeigt. 79 00:10:15,167 --> 00:10:23,666 Und dann habe ich den Gedanken aufgegriffen, um die Geschichte des Weltkrieges zu zeigen 80 00:10:23,667 --> 00:10:36,999 und speziell die des Holocausts, den ich am eigenen Leib erlebt habe und von dem ich wohl mit sehr viel Kompetenz sprechen kann, 81 00:10:37,000 --> 00:10:43,499 und habe ein Lesebuch entworfen, in dem wir gerade die Kinder – 82 00:10:43,500 --> 00:10:51,199 und zwar nicht nur im Geschichtsunterricht, sondern auch in anderen Fächern, zum Beispiel in Tschechisch oder in Kunsterziehung – 83 00:10:51,200 --> 00:10:57,032 mit dem Schicksal von Menschen vertraut machen, die den Krieg erlebt haben. 84 00:10:57,033 --> 00:11:05,432 Und wie ich sage, weil ich den Holocaust sehr gut kenne, ich habe ihn ja erlebt, 85 00:11:05,433 --> 00:11:13,899 habe ich versucht zu zeigen, wie verschiedene Leute den Holocaust erlebt haben, verschiedene junge Leute {nachdrücklich}. 86 00:11:13,900 --> 00:11:25,466 Denn ich wollte der Jugend junge Leute zeigen, {die} ihre Jugend an verschiedenen Orten verbrachten, in der Armee, im Konzentrationslager, im Arbeitslager. 87 00:11:25,467 --> 00:11:35,999 Es gibt zum Beispiel darin auch eine Erinnerung an die Kristallnacht in Deutschland, die ich besonders gut finde. 88 00:11:36,000 --> 00:11:45,499 Oder ich habe zum Beispiel ein Mädchen gefunden, das den Krieg in einem Kloster irgendwo in Frankreich überlebte und so. 89 00:11:45,500 --> 00:11:51,066 Ich wollte einfach die Erlebnisse verschiedener junger Leute aus dem Krieg zeigen, 90 00:11:51,067 --> 00:11:55,299 aber auch die Literatur, die sich darauf bezieht. 91 00:11:55,300 --> 00:12:06,799 Die Arbeiten und die Lyrik unserer Künstler, die irgendwie mit dem Widerstand oder mit der Zeit in Verbindung standen. 92 00:12:06,800 --> 00:12:17,966 Und ich wollte, dass den Kindern mit diesem Lesebuch unsere Erlebnisse näher gebracht werden, damit ihnen das näher ist. 93 00:12:17,967 --> 00:12:30,666 Damit sie gerüstet sind gegen verschiedene zum Beispiel verzerrte Informationen, denen sie im Leben begegnen. 94 00:12:30,667 --> 00:12:35,466 IV: Hm, da ist es also sehr gut, dass ein solches Buch entstanden ist. 95 00:12:35,467 --> 00:12:39,999 Ich möchten Ihnen, Frau Štichová, gern für das Gespräch danken. 96 00:12:40,000 --> 00:12:46,699 Und Ihnen jetzt noch Gelegenheit geben, wenn Sie möchten, zum Schluss unseres Gespräches noch etwas hinzuzufügen. 97 00:12:46,700 --> 00:12:58,999 EŠ: Na, ich denke, als ich gesagt habe, dass ich mir nur wünsche, dass nie, nirgendwo solche Dinge geschehen, wie sie uns geschehen sind, 98 00:12:59,000 --> 00:13:02,432 das reicht als Schlusswort. 99 00:13:02,433 --> 00:13:10,666 Aber leider weiß ich schon, dass das nicht so leicht ist. 100 00:13:10,667 --> 00:13:19,766 Und dass es nicht so sein muss, was für mich manchmal sehr schwer ist. 101 00:13:19,767 --> 00:00:00,000 IV: Ich danke Ihnen vielmals.